Jodel

Jodeln ist trendy

Peter Roth über den Trend des Jodelns:

 

«Als ich 1979 den Jodelklub Säntisgruss in Unterwasser übernommen habe, war es sehr schwierig, junge Sängerinnen und Sänger zu finden. Das ist jetzt anders. Jodeln ist ganz klar zum Trend geworden. Dafür sehe ich zwei Gründe. Der eine, der wichtigere, ist, dass sich das Jodeln öffnen konnte und nicht mehr so eng ans Bauern gebunden ist. Lang hatte man das Gefühl, man könne nur im Jodelklub singen, wenn man zu Hause einen Stall voller Kühe hat. Das hat auch seine Richtigkeit, denn der Jodel hat sehr viel mit der Alpkultur zu tun. In letzter Zeit aber sieht man im Landleben nichts Rückständiges mehr, sondern man schätzt und sehnt sich nach der heilen, unverbrauchten Welt, für die das Landleben und der Jodel stehen.

 

Der zweite Grund: Jodeln hat etwas Universelles bekommen und zieht auch Menschen in ihren Bann, die eine Faszination fürs Exotische haben. Der Naturjodel ist ein wichtiger Teil der Kultur im Toggenburg und Appenzellerland, aber gejodelt wird rund um die Welt. Das Falsettieren – das Wechseln zwischen Brust- und Kopfstimme – und die Naturtöne finden wir auch in Hirtenkulturen der Mongolei, Asien, Afrika, Skandinavien. Für manche Städter ist eine Alpfahrt schon exotisch, am Naturstimmen-Festival wird es mit Pygmäen aus Zentralafrika noch exotischer. In der direkten Begegnung ist es unglaublich berührend. Die Sprache versteht man nicht, aber die naturtönigen Traditionen ermöglichen die Verständigung über das Herz.»

 

Die Entstehung des Jodelns:

 

«Der Naturjodel ist, im Gegensatz zum Jodellied, eine Melodie ohne Worte und wird in Vokalen gesungen. Von Alp zu Alp wurde schon in vorgeschichtlicher Zeit mit Juchzern kommuniziert oder das Vieh angelockt. Der Naturjodel wurde ursprünglich nicht aufgeschrieben, sondern immer wieder neu improvisiert. Das Jodellied hingegen ist eine städtische Erfindung, es hat einen Text und mehrere Strophen mit anschliessendem Jodel. Das Jodellied ist in städtischen Jodelklubs entstanden, die sich ihrerseits aus Männerchören oder Turnvereinen bildeten. Ein Phänomen, das ebenfalls mit der Sehnsucht nach einer heilen Welt zu sehen ist. Diese Bewegung entstand in der Spätromantik, im 18. Jahrhundert, vor allem durch Jean-Jacques Rousseau und mit dem grossen Gedicht «Die Alpen» von Albrecht von Haller. Das war auch der Anfang des Alpentourismus, in den Bergen erlebte man ein Gegenstück zur Stadt, zur Industrialisierung, und man fand die Natur, Tiere, Pflanzen.»

 

Die Spiritualität des Jodelns:

 

«In den Hirtenkulturen ist Jodeln eine Kommunikationsform. Das ist die eine Hälfte. Die andere: Im Jodeln verbindet sich der Mensch mit der Natur, den Pflanzen, Tieren, dem Boden. Das ist der tief religiöse und spirituelle Hintergrund dieses Gesangs. In der Natur gibt es nicht einen einzelnen Ton. Das Plätschern des Wassers, die Stimmen von Tieren und Menschen – alle Klänge sind aus Obertönen zusammengesetzt, und als die Menschen dies hörten, das war wahrscheinlich die Geburtsstunde der Musik. Im Abendland war Pythagoras der erste, der die Obertöne entdeckt hat. Sie sind nach ganzzahligen Verhältnissen aufgebaut, die Abstände werden gegen oben immer kleiner. Dieses Grundmuster kommt auch im Sichtbaren vor, zum Beispiel beim Goldenen Schnitt oder bei den Farben, die den Schwingungsverhältnissen, den Proportionen der Obertonreihe entsprechen. Das ist eine Grundmatrix. Wenn wir die Obertöne singen, dann verbinden wir uns mit der Grundmatrix. Deshalb hat die Obertonreihe in allen spirituellen Kulturen eine Bedeutung. Mit Klangschalen, Glocken, Gongs bringen wir sie zum Klingen. Und beim Jodeln begleitet der Chor mit «Gradhäbe», er hält also den Grundakkord aus. Darüber singt der Jodler die hohen Töne der Obertonreihe.»

 

Der Raum:

 

«Die Melodien sind mehr oder weniger austauschbar. Viel entscheidender ist einerseits die Tonhöhe: Die Toggenburger und Innerschweizer jodeln hoch, der Chor ist unten; die Appenzeller Vorjodler bleiben hingegen eher tief, die Melodie ist in der Mitte, oben und unten hat es Platz für Begleitstimmen. Und andererseits das Tempo. Appenzeller singen langsamer, die Toggenburger etwas schneller, hüpfender, tänzerischer. Auch im Toggenburg ist der Gesang langsam und bedächtig, die Töne haben Zeit zum Einschwingen und Entwickeln der Farbe. Der Wechsel geschieht in der Ostschweiz mit dem Kehlkopfschlag. In der Innerschweiz ist hingegen der Zungenschlag wichtig. Das wirkt auch spektakulärer, deshalb haben solche Gruppen mehr kommerziellen Erfolg. Die Weltmeisterschaft im Zungenschlag gewann einst ein Japaner, weil er einfach am schnellsten war. Diese Form des Jodelns habe ich nicht gerne. Für mich braucht der Jodel einen Raum, in dem er sich akustisch und vom Sinn her entfalten kann. Das kann eine Kirche sein oder die Natur.»

 

Über seine Faszination:

 

«Ich bin in St. Gallen aufgewachsen, mein Grossvater stammte aber aus dem toggenburgischen Krinau. Manchmal holte er mich aus dem Kindergarten und später aus der Schule ab. Dank ihm lernte ich den Naturjodel, das Hackbrett, die Schellen kennen. Immer, wenn ich das hörte, stellten sich mir im Nacken und auf den Armen die Haare auf. Hühnerhaut. Als Kind studiert man nicht darüber nach, man geniesst es einfach. Ab 1968 habe ich in Zürich Musik studiert. Ich war oft bei den Musikethnologen und hörte erstmals korsische Polyphonie, ghanesische Wiegenlieder, bulgarische Frauenchöre und mongolische Schamanengesänge. Interessanterweise hatte ich dieselbe Empfindung. Es war eine seelische Berührung, die sich im Körperlichen ausdrückt. Die Einsicht, dass an beiden Orten dasselbe passiert, führte dazu, dass Klang zu meinem Lebensthema wurde. Es gibt kein Thema, das mich ähnlich durchs Leben begleitet hat. Reisen führten mich immer dorthin, wo es Naturtonmusik, Schellen und Gongs gibt. Die «Klangwelt Toggenburg» ist eine Materialisierung dieses Interesses.»

 

Die Faszination der Menschen:

 

«In der «Klangwelt Toggenburg» bieten wir Naturjodelkurse an. Die Bandbreite der Menschen, die zu uns kommen, entspricht der unglaublichen Vielfalt des Naturjodels selbst. Manche singen in Jodelklubs, haben vielleicht ein ganzes Leben «gradghäbet» und wollen jetzt selber einmal die Melodie singen. Andere haben ein Leben lang klassisch gesungen und möchten jetzt einmal Jodeln ausprobieren. Wieder andere haben zum Beispiel in Korsika Naturstimmen gehört und sind von der Ursprünglichkeit fasziniert. Wir haben aber auch Menschen, die wieder singen möchten. Manche haben seit Jahrzehnten nicht mehr gesungen. Der Lehrer sagte: «Du singst falsch, bei der Aufführung machst du einfach Mund auf und zu, ohne zu singen.» Wir können ihnen die wunderbare Möglichkeit geben, mit «Gradhäbe» wieder in die Stimme zu kommen.»

 

Über Inspiration:

 

«Viele Menschen inspirieren mich für neue Kompositionen. Noldi Alder finde ich beeindruckend, weil er an die Grenzen geht. Er tut dies immer mit Respekt, nie kommt es zur Verhunzung. Beeindruckend ist auch Nadja Räss, ihr Grossvater ist Innerrhödler, ihr Vater Ausserrhödler, sie ist in der Innerschweiz aufgewachsen. Sie kann authentische Innerrhoder Rugguserli, Ausserrhoder Zäuerli und Toggenburger Naturjodel singen. Annelies Huser, eine Bäuerin und Jodlerin des Kirchenchors Alt St. Johann, ist für mich die grösste Inspiration. Sie hat eine phänomenale Stimme, von Natur aus mitbekommen, nie hat sie eine Gesangsstunde gehabt. Bin ich am Komponieren, höre ich innerlich oft ihre Stimme singen.»

 

Über die Zukunft des Jodelns:

 

«Die Sehnsucht nach der heilen Welt auf dem Land ist eine Modeerscheinung, die kommt und geht. Das werden weiterhin Wellenbewegungen sein. Was aber bleiben wird, davon bin ich überzeugt, ist das Naturverbundene, Spirituelle und der Wille, sich auch körperlich wieder stärker in die Schöpfung hineinzubewegen. Seit der Reformation und der Aufklärung haben wir unsere rationale Seite sehr stark gepflegt. Das waren absolut notwendige Entwicklungsschritte. Aber wir sind einseitig geworden, wir analysieren, planen, wollen alles im Griff haben. Jetzt geht es darum, den intuitiven Zugang wieder besser zu pflegen. Wir müssen dem Ganzen wieder mehr Respekt und Sinnlichkeit entgegenbringen. Für mich persönlich ist das Voraussetzung für das Überleben der Gattung Mensch. Was wir jetzt betreiben, funktioniert auf die Länge nicht, wir beuten die Natur aus. Weiter geht es nur über eine ganzheitlichere Sicht und eine spirituellere Haltung. Ich sage dem bewusst nicht Religion, sondern ein stärkeres Bewusstsein fürs Ganze und die Zusammenhänge. Musik, Klang, Jodeln ist ein wunderbarer Weg zu dieser Haltung. Und die Menschen spüren es. Man merkt es immer, wenn ein Naturjodel beginnt, alle still werden und sich Andacht auf den Gesichtern zeigt.»

 

 

 

Peter Roth wurde 1944 in St. Gallen geboren. Nach dem Lehrerseminar und kurzer Lehrtätigkeit studierte er von 1968 bis 1972 am Konservatorium Zürich Schulmusik. Seither machte er sich als Komponist (zum Beispiel der «Toggenburger Passion»), Chorleiter sowie als Initiant von «Klangwelt Toggenburg» (Kurse, Klangschmiede, Naturstimmenfestival) einen Namen. Peter Roth lebt in Unterwasser. (kba)